11-09-14

DIE NEUTRALEN LÄNDER

Bis zum Zeitpunkt, zu dem diese Zeilen geschrieben werden, sind folgende europäischen Länder neutral:
Schweden, Norwegen, Dänemark, Holland, Schweiz, Spanien, Portugal, Italien, Rumänien, Bulgarien, Griechenland und die Türkei.
Wie werden sie sich während und nach Ende des Krieges verhalten? Werden sie ihre Neutralität bewahren?
Und wenn sie Partei ergreifen, auf wessen Seite werden sie sich schlagen?
Verschaffen wir uns einen kurzen Überblick über ihre Sympathien und mögliche Parteinahmen.

Schweden und Norwegen sind bewegt von einer verständlichen Feindseligkeit gegenüber Russland, das für sie eine ernsthafte Bedrohung darstellt.
Es ist jedoch wahrscheinlich, dass sie aufgrund ihrer guten Beziehungen zu Frankreich und England neutral bleiben.

Dänemark unzweifelhaft: Die Provinz, die Deutschland geraubt hat, war und ist eine Quelle der Abneigung.
Ideal für Dänemark wäre eine Niederlage Deutschlands, nicht nur, um seinem geschichtlich gewachsenen Hass Genugtuung zu gewähren,
sondern auch, um zu versuchen, Schleswig-Holstein zurückzugewinnen - keine absurde Hoffnung anbetrachts der guten
politischen und familiären Beziehungen der Krone Dänemarks zu den Höfen von England und Russland.

Die Haltung Hollands ist klar definiert. Die deutsche Diplomatie, in bekannter Stumpfsinnigkeit, hat es nicht verstanden,
sich den guten Willen der Holländer zu gewinnen, die mit Recht in einem Triumph Deutschlands eine grosse Gefahr sehen.
Holland steht bei Fuss, seine Neutralität zu verteidigen, falls eine der kriegführenden Mächte versuchen sollte, diese zu verletzen,
sei es absichtlich oder aus einem plötzlichen Antrieb heraus - was den deutschen Truppen widerfahren könnte, wenn sie sich gezwungen sähen,
unter dem Ansturm der Belgier und Franzosen nach Holland zurückzuweichen. Sodann würden holländische Soldaten sofort die deutschen entwaffnen.
Ein aussergewöhnliches Mittel, Hollands Neutralität zu verteidigen, besteht darin, dafür zu sorgen,
dass das Meer die nördliche Hälfte des Landes überschwemmt - die Deiche öffnend, die bis dahin die Wassermassen zurückhalten.

Der Schweiz käme ein Triumph Deutschlands ebensowenig recht. Abgesehen davon darf man annehmen, dass das Schweizer Volk seine traditionelle
Neutralitätspolitik beibehalten wird, um nichts in der Welt einzuschreiten, bis es die eigene Integrität und Unabhängigkeit in Gefahr sieht.

Von Portugal nichts weiter zu sagen. Jahrhundertealte Verbindungen einen es mit England und man darf davon ausgehen,
dass diese jetzt eher stärker als denn loser werden.

Auch die Sympathien Spaniens lassen keinen Zweifel offen. Die Bande, die uns mit Frankreich und England in Bezug auf das Problem Marokko einen,
die politischen Beziehungen zu den Völkern Frankreichs und Englands, nicht allein unter Diplomaten,
mehr noch die familiären zwischen den Höfen Englands und Spaniens, sind Gegebenheiten, die unser Handeln bestimmen.
Sagen wir es einmal so: Es war ein grosses Glück, dass Spanien, als es darum ging, auf die Bühne der europäischen Politik geworfen zu werden,
nicht ins System Deutschlands eingebunden wurde. Unsere Lage wäre nun damit verzweifelt gewesen.
Andererseits, Italien neutral, ist wahrscheinlich, dass weder Frankreich noch England freundschaftlichen Druck auf unsere Neutralität ausüben
und dass keiner von beiden sie verletzt. Soweit in materieller Hinsicht. In ideeller, glaube ich, sind unsere Neigungen gleich.
Es ist wahr, dass Deutschland in den letzten Jahren für Spanien das Mekka in Wissenschaften war. Die Deutschland seiner Kultur wegen lieben,
können beruhigt sein: die bleibt gedeckt, auch wenn die ganze übergewichtige Fabrik des deutschen Militarismus und Imperialismus zusammenstürzt;
im Gegenteil, sie wird an Frucht und Freiheit gewinnen, ist der erdrückende Schatten erst gewichen, den das preussische Despotentum geworfen.

Auf dem Balkan scheint die Lage um einiges weniger sicher. Österreich ist dahin gekommen, Bulgarien und Rumänien je ein Stück Serbien anzubieten.
Beide Länder sind hingegen zu sehr mit Russland verbunden, ihre Animositäten mit Österreich noch zu frisch und lebendig, den Köder zu schlucken.
Nur die Türkei scheint Deutschland ein blutleeres Händchen zu reichen - wir wissen nicht, ob aus Dankbarkeit zu seinen militärischen Ausbildern
und dessen Kanonen, die ihr in Wirklichkeit nur dazu dienen können, eine der furchtbarsten Niederlagen zu bereiten, die eine Nation erleiden kann.
Wenn die Türkei zu den Waffen greift, dann nur, um gegen Griechenland vorzugehen, welches sich dann eilends auf Seiten Frankreichs und Englands stellt.

Die Neutralität Italiens ist anbetrachts der frechen Agression Österreichs Serbien sowie der brutalen Attacke Deutschlands Belgien gegenüber sicher,
ungeachtet des wiederholten diplomatischen Drucks seitens Berlin und Wien. Eine Dreierallianz wird es so ohne entsprechenden Zusammenhalt nicht geben.
Italien hat sich mit seiner Haltung auf die Seite der demokratischen Völker gestellt - ein Zeichen, nicht nur für den Verlauf des Krieges,
sondern auch für die Neuordnung der Kräfte, die nach seinem Ende auf uns zukommen wird.

Dies ist die Lage der neutralen Länder innerhalb Europas. Ausserhalb finden die Autokratien Deutschlands und Österreichs auch keine offene Hand.
Der Kaiser hat versucht, mit den Vereinigten Staaten zu kuscheln, aber vergebens. Die Autokraten bleiben unter sich.

LUIS ARAQUISTAIN,
20.August