23-03-18

Ein anderes Bild von meinem abwesenden Freund J.D.
(Wieder) adressiert an José  Pérez Andreu

"Lange Zeit schon betrachte ich dein Bild, mein Freund,
und - ich weiss nicht, warum - es berührt mich zutiefst.
Ist es das Modell, zugleich einfach und doch mit viel Ausdruck
oder ist es die Form, Mitleid erweckend ob der ärmlichen Bettlerin,
deren Augen die Misere in ihrer ganzen Bandbreite erblicken lassen."
In einem Wort : Gut. Hast gewusst, mir die Augen zu öffnen,
eine Sache zu sehen, die ich schon oft angeschaut habe,
ohne mir dessen bewusst geworden zu sein.
"Das wusstest Du."
Ich glaube, dass nicht. Schliesslich bist Du nicht imstande,
in meine Brust zu sehen oder in ihr zu lesen, obgleich es so scheint.
Schauen wir nun, was das Bild bedeutet,
auch wenn ich mich nicht so glückhaft und klar auszudrücken vermag
wie Sie, Herr José, das in Ihren herrlichen Schriften tun.
Sie werden mir das verzeihen, bin ich doch weder von Ihrer Nation
noch vermag ich Ihre Sprache zu beherrschen.
Nur sehr schwer kann ich ausdrücken, was ich in meinem Inneren denke.

Eine moderne Strasse, hell beleuchtet, mit all dem charakteristischen Leben, typisch Grossstadt eben.
Auf der Strasse Leute, viele Leute, aus allen Schichten, wie jeden Tag.
Hier ein "Dandy", höchst elegant, ein echter Schocker, auf einem Auge mit Monokel
und dazu der Blick, unnachahmlich.
Dort eine Dame mit Kind, gefolgt von einem "Groom", der die Pakete vom Einkauf hinterherträgt.
Und mehr Leute. Hier zwei Tagelöhner auf dem Weg zu ihrer ärmlichen Unterkunft,
nach einem Tag voll harter Arbeit. Ihre Gesichter, schwarz vom Rauch,
sie tragen Züge der Erschöpfung und Wunsch nach Erholung,
zur gleichen Zeit aber auch der Genugtuung und Zufriedenheit, zu wissen, wohin.
Vielleicht warten Frauen und Kinder auf sie und sie werden mit ihren Lieben
die freie Zeit geniessen und die harte Arbeit vergessen.
Und hier noch ein Soldatchen mit Freundin, Arm in Arm,
zärtlich einander sich anschauend, lachend und spielend.

Zuletzt, in einer Ecke, ein wenig zurückgezogen, ein armes Weib,
alt und versunken in ihre Misere, arm zwar, aber verschämt, Almosen erbetteln zu müssen.
Sie streckt ihre runzlige, zitternde Hand aus,
mit traurigen und ängstlichen Augen den Geschniegelten betrachtend.
Der Dandy wirft ihr nur einen geringschätzenden Blick zu, geht seines Weges,
pfeift sich die Melodie einer gerade angesagten Operette.
Was stört ihn eine solche Miserable.
Die Frau mit dem Kind ist noch nicht dergestalt überheblich.
Sie gibt dem "Groom" ein Geldstück, damit dieser es an die Bettlerin weiterreiche.
Hätte die Dame sich beim Kontakt mit "so einer" doch die Hände schmutzig gemacht.
Einer der Arbeiter hingegen nimmt die wenigen Pfennige, die er in seinem Beutel bewahrt
und gibt sie der Armen. Statt des Weins, den er zu Abend trinken wollte,
wird es nun Wasser werden, aber ein durch das Gedenken an den caritativen Akt aromatisiertes,
wobei er selbst nicht mit vielen Gütern gesegnet ist.
Seitlich von der Bettlerin, schliesslich ein Mann, vergeblich nach einer milden Gabe suchend.
Er selbst hat garnichts, wieselt sich als Vater so durchs Leben - aber er ist ein MANN
ud kann arbeiten, während die Frau krank ist und alt.
Er schickt einen leidvollen Blick gen Himmel, weil er der Armen nicht helfen kann
und weil die Welt doch so geizig ist und hart...

* * *
Mein Freund ! Mit diesem Bild sagst du mir etwas, das schon alt ist, aber auch immer wieder neu :
Armut erweckt Mitleid, mehr jedoch unter den Armen, die einander nicht zu helfen vermögen,
als unter den Reichen, denen es, ohne sich selbst einzuschränken, leicht fallen dürfte, viel Gutes zu tun.
Ich danke dir fúr diese Einschätzung und wünsche, dass eines Tags der käme, an dem jeder jedem hülfe.
Das wäre ein guter Schritt weiter, unsere Welt vollendet zu machen.